{Rezension} Ich, Ariadne von Jennifer Saint


Lesedauer: 4 Minuten

Als Tochter des kretischen Königs Minos wuchs Ariadne nicht nur mit den griechischen Sagen auf, sondern auch mit dem monströsen Minotaurus als Bruder. Ihr machthungriger Vater fordert jedes Jahr für den Minotaurus vierzehn Jugendliche als Opfer von Athen. Ariadne verfolgt das Geschehen mit Schrecken, bis sie sich eines Tages in Theseus, den Prinzen von Athen, verliebt, der dem Ungeheuer ein Ende bereiten will. Mit ihrer Hilfe gelingt Theseus die Heldentat und gemeinsam segeln sie in eine Zukunft in Athen, doch bei einem kurzen Aufenthalt auf der Insel Naxos begeht Theseus Verrat und lässt Ariadne alleine zurück…

Die Faszination der griechischen Mythologie erlebt seit Jahren eine Renaissance, sei es in der Jugendliteratur, der Comic-Welt, aber auch bei den Romanen für Erwachsene, bei denen auch weibliche Nebenrollen mit einer feministischen Betrachtungsweise in den Vordergrund gestellt werden (wie es z. B. Madeline Miller bravourös in »Ich bin Circe« bewiesen hat).

Jennifer Saint reiht sich mit ihrem Roman »Ich, Ariadne« in diese Riege ein, denn sie erzählt den griechischen Mythos um den Minotaurus von Kreta und seinen Bezwinger Theseus aus der Perspektive der Ariadne, die keine unwichtige Rolle in dieser Geschichte einnimmt und es somit verdient hat in den Vordergrund zu treten, auf eine moderne Weise neu.

Der berühmte Heldenepos entfaltet aus der weiblichen Sicht eine vollkommen andere Dynamik, denn hier stehen nicht die Heldentaten, Kriegsführung und Machthaberreien der Herrscher im Vordergrund, sondern die Auswirkungen dessen auf die Frauen und Familie. Früh lernt Ariadne durch Erzählungen diverser Sagen, dass oftmals die Frauen für die Verfehlungen der Männer von den Göttern bestraft wurden. Dieses Schicksal möchte sie auf keinen Fall teilen, zumindest schwört sie sich das, bis sie sich selbst von Theseus verraten sieht und hinter den Glanz seines Heldentums blickt.

Sich wie die beiden letzten Menschen auf der Welt zu fühlen, war aufregend; sich wie der allerletzte Mensch zu fühlen, zutiefst beängstigend.
Seite 125

Nicht nur Ariadnes Schicksal wird von Jennifer Saint in den Fokus gerückt, sondern auch das schwere Los ihrer Mutter Pasiphae, die anstatt ihres Gatten Minos von den Göttern bestraft wird und Ariadnes Schwester Phädra erhalten eine Bühne. Die Botschaft von Jennifer Saint ist klar, jedoch hätte ich mir gewünscht, dass die Kluft zwischen den leidtragenden Frauen und den fehlgeleiteten Männern nicht so stark schwarz-weiß dargestellt worden wäre. Ein ausgleichender Protagonist hätte der Geschichte sicherlich gutgetan und die auffallend „gewollte“ Nuance verhindert.

Der Vergleich zu Madeline Millers »Ich bin Circe« drängt sich optisch sowie thematisch auf, jedoch zieht hierbei »Ich, Ariadne« direkt den Kürzeren. Losgelöst von dieser Gegenüberstellung ist Jennifer Saints Roman eine gelungene Neuinterpretation einer Erzählung aus der griechischen Mythologie, in der Umsetzung bleibt die Geschichte jedoch distanziert, wo Miller Nähe schafft und zum mitfiebern bewegt und oberflächlich, wo ›Circe‹ Tiefe und Nachdruck erhält.

»Ich, Ariadne« ist ein absolut lesenswerter Roman für alle, die gerne in eine leicht zugängliche Geschichte aus der griechischen Mythologie abtauchen wollen und dabei offen für eine andere Perspektive, abseits des Heldentums sind.


Jennifer Saint muss den Vergleich mit Madeline Miller nicht scheuen, lädt sie doch dazu ein, die althergebrachten Mythen der griechischen Sagen neu zu überdenken.

★★★½☆

*WERBUNG*


Titel: Ich, Ariadne
Originaltitel: Ariadne
Autorin: Jennifer Saint
Übersetzerin: Simone Jakob
Genre: Sonstige Belletristik
Verlag: List (Ullstein Buchverlage)
ISBN-13: 978-3471360255
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 416 Seiten
Preis: 24,00 €
Erschienen: 29. November 2021

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Jennifer Saint begeisterte sich schon als Kind für die griechische Mythologie, und während ihres Studiums der Altphilologie am King’s College in London hat sie ihre Liebe zu den antiken Sagen vertieft. Als Englischlehrerin versucht sie die Faszination für Geschichten aller Art und die reiche Erzähltradition seit Homer zu vermitteln. Jeder Erzähler hat die antiken Stoffe für sich neu interpretiert. Jennifer Saint stellt die weibliche Heldin in den Mittelpunkt.

Quelle: Ullstein Buchverlage


[…] das Buch beschert einem zwar einige amüsante Stunden, ihm fehlt jedoch der letzte Schliff, um lange nachzuhallen, trotzdem würde ich jeden Mythologie-Interessierten raten, sich selbst ein Bild zu machen und empfehle das Buch gerne und guten Gewissens weiter.
Miss Pageturner

Eine geglückte, kluge, aber auch eher leise Neuinterpretation der Geschichte von Ariadne.
Little Words

Gerne mehr von solch „Nebenrollen“ aus der griechischen Mythologie.
Meggies Fußnoten

Der Autorin gelingt es, die Welt der Sagen in eine Wirklichkeit zu überführen, die nichts krampfhaft Modernes hat.
NDR, Peter Helling

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2 Kommentare

  1. Miss_Pageturner

    Hi,
    eine hervorragende Rezension, der ich nur zustimmen kann. Ergänze ich gleich bei mir =D Tatsächlich haben wir ja mit dem Fehlen positiver männlicher Beispiele und der im vergleich zu Circe geringeren Komplexität sehr ähnliche Punkte angesprochen.

    Und wenn man schon beim Vergleich ist, ich finde es sehr interessant wie unterschiedlich Pasiphae in den beiden Romanen dargestellt wurde. Das zeigt dann wieder wie spannend es sein kann, wenn unterschiedliche Autor*innen denselben Mythos bearbeiten und je nachdem welchen Fokus sie legen, andere Geschichten erschaffen.

    Liebste Grüße, Sandra

    • Liebe Sandra,

      vielen Dank für dein Lob und das Verlinken :)

      Stimmt, die Herangehensweise von Saint unterscheidet sich auf jeden Fall zu der Millers. Mal sehen, ob noch andere Autor*innen auf den Zug aufspringen.

      Herzliche Grüße
      Bella

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