{Rezension} Mädchen, Frau etc. von Bernardine Evaristo


Lesedauer: 4 Minuten

Einst musste sich Amma ihre Anerkennung als schwarze, lesbische Dramatikerin in Londons Theaterszene hart erkämpfen, nun steht ihre Premiere am National Theatre kurz bevor. Ihre neunzehnjährige Tochter Yazz hofft nur, dass die Reaktionen auf das provokante Stück für sie nicht zu peinlich werden. Ammas älteste Freundin Shirley hat früher für Yazz die Babysitterin gespielt. Inzwischen ist sie nach jahrzehntelanger Arbeit an unterfinanzierten Schulen ausgebrannt. Ihr größter Verdienst ist Carole, eine ehemalige Problemschülerin, die es bis nach Oxford geschafft hat. Doch Dankbarkeit hat sie darfür nie von Carole erfahren, die als Investmentbankerin nun mit den feinen Unterschieden der Upperclass konfrontiert ist. Caroles Mutter Bummi, die aus Nigeria stammt, kann mit der Britishness ihrer Tochter nichts anfangen, auch wenn sie ihr wohlweislich einen englischen Namen gegeben hat. So verschieden die Frauen und ihre Lebensgeschichten in diesem Roman sind, sind sie doch eng miteinander verbunden. Ihre Entscheidungen, ihre Kämpfe, ihre Fragen erschaffen ein einzigartiges, vielstimmiges Panorama unserer Zeit.

Bernadine Evaristo gewann mit ihrem Roman »Mädchen, Frau etc.« 2019 als erste schwarze Autorin den Booker Prize und erhielt auch hierzulande mit der deutschen Erstveröffentlichung im Tropen Verlag große Aufmerksamkeit, die ihre Geschichte über zwölf schwarze Frauen auch mehr als verdient.

In fünf Kapiteln taucht man in die Lebensgeschichte von den Protagonistinnen ein, die alle lose miteinander verknüpft sind, durch Verwandtschaft, Freundschaft und Liebe. Die Rahmenhandlung stellt die Premiere von Ammas Theaterstück am National Theatre dar, bei der die meisten der Frauen anwesend sind und die losen Fäden zusammengefasst werden.

Bernardine Evaristo setzt bei ihren Erzählungen auf ein ungewöhnliches Stilmittel, indem sie fast vollkommen auf Interpunktion verzichtet und ihrem Text damit einen eigenwilligen Rhythmus aufdrückt. Im Lesefluss hat mich das nur zu Beginn etwas gestört und stolpern lassen, einmal daran gewöhnt entfaltet sich die soghafte Wirkung der Geschichte allerdings ungehindert und brilliert vor allen Dingen durch die wechselnde Sprache, die sich immer der jeweiligen Frau anpasst, über die gerade erzählt wird, sodass man das Gefühl hat, diese spricht einen direkt an.

»[…] wir sind alle Teil eines Kontinuums, […], die Zukunft liegt in der Vergangenheit, und die Vergangenheit liegt in der Gegenwart«
Seite 253

Die Frauen über die Bernardine Evaristo berichtet befinden sich in den unterschiedlichsten Lebensabschnitten, von der neunzehnjährigen Yazz bis hin zur dreiundneunzigjährigen Grace, und so spiegelt sich die Veränderungen durch die Jahrzehnte aber auch die Parallelen in den Schicksalen dieser schwarzen Frauen wider. Eine Präsenz, die sich durch alle Lebensläufe zieht, sind Themen wie Rassismus, Feminismus, sexuelle Orientierung und Identität.

Aber auch die Betrachtung von Gewalt, patriarchale Unterdrückung, Migration, Integration, familiäre Gefüge und althergebrachte Regelungen und Traditionen, die junge Menschen in ihrer Entfaltung hemmen und sie in ein Korsett stecken, werden verpackt in bewegenden Erzählungen aufgetischt. Besonders spannend zu lesen war für mich die Geschichte über Megan, die sich gegen alle Versuche ihrer Mutter sie in ihr Modell einer femininen Tochter zu zwängen behauptet und schließlich in einer nicht-binären Rolle als Morgen aufblüht und eine glückliche Beziehung zu einer Transfrau eingeht.

Durch Evaristos abwechslungsreiche und diverse Darsteller*innenauswahl kann man seinen eigenen Horizont ungemein erweitern. Bisher hatte ich zwar schon Bücher über lesbische, schwule oder transsexuelle Protagonist*innen in der Hand, mit der nicht-binären Geschlechtsidentität, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Spektrum zuordnen lässt, allerdings nur durch Tillie Waldens Comic »Auf einem Sonnenstrahl« kurzen Kontakt.


»Mädchen, Frau etc.« ist ein bewegender und augenöffnender Roman über die wichtigen Themen unserer Zeit. Unbedingt lesen!

★★★★½

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Titel: Mädchen, Frau etc.
Originaltitel: Girl, Woman, Other
Autorin: Bernardine Evaristo
Übersetzerin: Tanja Handels
Genre: Gegenwartsliteratur
Verlag: Tropen (Klett-Cotta)
ISBN-13: 978-3608504842
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 512 Seiten
Preis: 25,00 €
Erschienen: 23. Januar 2021

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Bernardine Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Für ihren Roman Mädchen, Frau etc. wurde sie als erste schwarze Schriftstellerin 2019 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet.

Quelle: Klett-Cotta Verlag


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