{Rezension} Meine Freundin Annabel Lee von Mary MacLane


Lesedauer: 3 Minuten

Zwei Frauen erzählen einander alles, was sie bewegt: Sie sprechen über Freundschaft und Liebe, über die Schönheit des Alltäglichen, die Einsamkeit und die Anonymität der Großstadt. Doch wer ist Annabel Lee, die Freundin der Ich-Erzählerin, eigentlich? Ist es ihre Geliebte? Oder doch nur eine japanische Porzellanfigur, benannt nach der Heldin des schwermütigen Gedichts von Edgar Allan Poe? Oder handelt es sich am Ende um ein Selbstgespräch?

Mary MacLanes Roman lässt all das elegant in der Schwebe. Das literarische Können der Autorin, die 1902 mit ihrem ungestümen Debüt Ich erwarte die Ankunft des Teufels für Furore sorgte, zeigt sich hier von einer zarten und melancholischen Tonart.

Ich freue mich sehr, dass die Werke der kanadischen Schriftstellerin Mary MacLane eine Renaissance erleben, denn ihre Texte sind unheimlich faszinierend und versprühen einen ganz eigenen Charme. Aufmerksam wurde ich durch die deutsche Publikation ihres skandalträchtigen Erfolgsromans »Ich erwarte die Ankunft des Teufels« aus dem Jahre 1902, mit dem die damals neunzehnjährige schlagartig berühmt wurde.

Nun wurde mit »Meine Freundin Annabel Lee« ein weiteres Werk der talentierten Autorin im Reclam Verlag in deutscher Übersetzung herausgebracht, welches erstmals 1903 veröffentlicht wurde.

In ihrer unvergleichlich lebhaften Erzählkunst präsentiert die damals einundzwanzigjährige Mary MacLane einen mitreißenden Dialog zwischen sich und ihrer Freundin Annabel Lee, bei der es sich je nach Interpretation um das Gespräch mit einem Kunstobjekt, einer tatsächlichen Freundin oder auch nur um ein Selbstgespräch handeln kann. Mary MacLane hat ihrer Gesprächspartnerin den Namen nach einem Gedicht von Edgar Allan Poe ausgesucht, welches im Buch natürlich zur Sprache kommt. Des Weiteren nimmt MacLane auch noch auf weitere Werke aus ihrer Zeit Bezug und setzt sich mit den Unterschieden zwischen ihrem Leben in der ländlich gelegenen Bergbaustadt Butte und ihrer gegenwärtigen Situation in der Großstadt Boston auseinander.

Mary MacLanes Erzählungen zeugen von einem wachen Verstand, einer brillanten Beobachtungsgabe und fangen dabei den Zeitgeist ihres Jahrzehnts in einer Momentaufnahme ein, die gespickt ist mit ihren persönlichen Gedanken. Besonders imponiert haben mir die präzise Auffassung und Wahrnehmung von Schönheit und die sprachliche Illustration der Umgebung sowie die anschaulichen Naturbeschreibungen.

Die einzelnen Kapitel des Buches sind kurz gehalten und lassen sich, obwohl der Text über einhundert Jahre alt ist, flüssig lesen – was sicherlich auch der Übersetzung von Mirko Bonné zu verdanken ist. »Meine Freundin Annabel Lee« bietet ein kurzweiliges Lesevergnügen und lässt in das Leben und die Gedankenwelt einer einundzwanzigjährigen Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts eintauchen.


In eloquenter Erzählkunst zeichnet Mary MacLane ein bestechendes Bild ihres Lebens im 20. Jahrhundert.

★★★★☆

*WERBUNG*


Titel: Meine Freundin Annabel Lee
Originaltitel: My Friend Annabel Lee
Autorin: Mary MacLane
Übersetzer: Mirko Bonné
Genre: Klassiker
Verlag: Reclam
ISBN-13: 978-3150113189
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 153 Seiten
Preis: 18,00 €
Erschienen: 12. März 2021

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Mary MacLane (1881–1929) wurde als 19-Jährige mit ihrem ersten Buch Ich erwarte die Ankunft des Teufels schlagartig berühmt, weitere autobiographische Texte folgten. Sie schrieb den Stummfilm Men Who Have Made Love to Me (1918), in dem sie selbst die Hauptrolle spielte. MacLane, deren bohemehafter Lebensstil und Bisexualität immer wieder für Skandale sorgten, starb im Alter von 48 Jahren in Chicago.

Quelle: Reclam Verlag


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5 Kommentare

  1. Hallöchen meine Liebe,

    das Buch ist gleich mal auf meine Vorschlagsliste für die Klassikerlesegruppe gelandet. Danke dir.
    Mal doof gefragt: Wird denn aufgelöst, wer es ist???

    Liebe Grüße
    Tina

    • Liebe Tina,

      oh wie schön, vielleicht ist dann auch MacLanes Debütroman „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“ etwas für euren Club?

      Zu deiner Frage (es gibt keine doofen Fragen – nur doofe Antworten :-*): Es gibt keine Auflösung, sodass es sich bestimmt auch gut für Diskussionen im Club eignet, da jeder etwas anderes hineininterpretieren kann.

      Hab noch einen schönen Abend!

      Viele Grüße
      Deine Bella

      • Vielleicht wäre das auch eine Möglichkeit! Die Liste wird immer länger :-)
        Oh, keine Auflösung, das gibt wirklich guten Gesprächsstoff ab.

        Danke, dir auch einen schönen Abend.

  2. Doina Humbel

    „Meine Freundin Annabel Lee“ absolut nicht mein Still. Tut mir leid, ich habe mich gelangweilt.Was für eine Idee, Selbstgespräche mit einer Porzellanpuppe zu führen!. Interessant ist es aber, sie hat eine andere Art entdeckt, ihre Homosexualität (und zwar literarisch) auszuleben?! Ihr gutes Recht! Nun, ein anderes Buch von Mary Maclane werde ich aber nicht lesen. Ich liebe aber Edgar Allan Poe!

    • Liebe Doina,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Wirklich schade, dass Mary MacLane deinen Geschmack nicht treffen konnte. Da dir ihr Stil nicht gefällt, hätte ich dir auch von ihren anderen Büchern abgeraten. Vielleicht ist dann eher „Monsieur Vénus“ von Rachilde etwas für dich. In diesem Roman geht es um die Auflösung von Sexualität und die Autorin ist ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts geboren.

      Ich muss gestehen, Edgar Allan Poe steht schon lange auf meiner Leseliste. Bisher habe ich allerdings nur „Das verräterische Herz und andere unheimliche Geschichten“ von ihm gelesen. Was würdest du mir von ihm empfehlen?

      Ich wünsche Dir ein schönes und sonniges Wochenende!

      Herzliche Grüße
      Bella

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