{Rezension} Gebrauchtes Glück von Gabrielle Roy


Lesedauer: 4 Minuten

Kanada, 1940. Die 19-jährige Florentine Lacasse strebt mit ihrer jugendlichen Schönheit nach Liebe und Glück. Sie stammt aus ärmlichen Verhältnissen und trägt, als einzige mit einem Job in der Familie, mit ihrem Kellnerinnengehalt bereits eine große Verantwortung auf ihren Schultern, denn sie ist stets umgeben von den Nöten und Sorgen ihrer Mutter und kleineren Geschwister. Die Liebe zu einem berechnenden Aufsteiger wecken in Florentine einen Lebenshunger und schürt in ihr die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft.

Jedes Mal bereitet es mir auf ein neues Freude, meinen literarischen Horizont zu erweitern, ganz besonders sogar, wenn es sich um einen Roman handelt, der Zeitgeschichte konserviert wie es die Kanadierin Gabrielle Roy in ihrem Roman »Bonheur d’occasion« aus dem Jahr 1945 tut, der nun mit »Gebrauchtes Glück« zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung vorliegt.

Die Journalistin und Autorin gilt als Vorreiterin der modernen und feministischen Literatur Kanadas, da sie in ihrer fiktionalen Geschichte das Schicksal der Frauen in der kanadische Provinz Québec mit ihrem großen französischen Bevölkerungsanteil zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in den Vordergrund rückt. Wie unter einem Brennglas beleuchtet Gabrielle Roy in der allumfassenden Draufsicht das Leben der zehnköpfigen Familie Lacasse in Montreal, die unter ärmlichen Verhältnissen den schweren Alltag bestreiten.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht die junge Frau Florentine, die älteste Tochter von Rose-Anna und Azarius Lacasse, die derzeit als einzige in der Familie einer bezahlten Arbeit als Kellnerin nachgeht. Während Rose-Anna, schon wieder mit einem Kind schwanger, von Sorgen über ihre Zukunft, der Suche nach einer größeren Wohnung und ihrer prekären finanziellen Lage zerfressen wird, sodass sie sogar darüber den schlechten gesundheitlichen Zustand ihres jüngsten Sohnes vergisst.

Florentine sehnt sich nach einem schönen Leben und will nichts mehr, als dem Elend der Armut zu entkommen, da sie an ihrer Mutter Beispiel vor Augen hat, wie ermüdend und auszehrend der tägliche Kampf um eine Abmilderung des Elends ist.

Gabrielle Roy zeichnet in »Gebrauchtes Glück« ein ungeschöntes Bild der sozialen und gesellschaftlichen Missstände im frankophonen Kanada zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Ihre starken Heldinnen haben dabei unterschiedliche Kämpfe mit sich und ihrer persönlichen Situation auszufechten, die von den Umständen der Arbeitslosigkeit sowie insbesondere ihrer Rolle als Frau geprägt sind.

Natürlich wird auch etwas Licht in die Generation der jüngeren und älteren Männer im Umfeld der Familie Lacasse geworfen. Speziell die Darstellung von Azarius Lacasse, der mit seinen Träumereien und seiner leichtfertigen Arbeitslosigkeit als Familienvater hat mich schwer schockiert, gerade auch deshalb, weil es sich so authentisch für diese Zeit mit ihrer Politik und deren Auswirkungen auf das Leben der Leute anfühlt.

So sehr mich Gabrielle Roys Roman auch zum Mitfühlen verleitete, muss ich doch gestehen, dass ihrem Erzählstil etwas Angestaubtes anhaftet, was ich teilweise als Barriere empfunden habe und dem Geschehen den Anstrich eines Schaukastens verleiht.


Gabrielle Roy gewährt mit »Gebrauchtes Glück« einen Blick durch den Spiegel der Zeit auf das Leben in Québec zu den 1940er Jahren mit besonderem Blick auf die heimlichen Heldinnen. Ein Roman, der seiner Zeit weit voraus war und heute ein bedrückendes Zeugnis über die Verquickungen von Krieg, Politik, der Sozialgesellschaft und Religion ablegt.

★★★★☆

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Titel: Gebrauchtes Glück
Originaltitel: Bonheur d’occasion
Autorin: Gabrielle Roy
Übersetzerinnen: Anabelle Assaf, Sonja Finck
Genre: Gegenwartsliteratur
Verlag: Aufbau
ISBN-13: ‎978-3351034887
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 455 Seiten
Preis: 24,00 €
Erschienen: 20. September 2021

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Gabrielle Roy wurde 1909 als jüngstes von elf Kindern in der kanadischen Provinz Manitoba geboren. Sie arbeitete als Lehrerin, bevor sie nach England und Frankreich ging, um dort Drama zu studieren. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kehrte sie nach Kanada zurück und arbeitete in Montreal als Journalistin. Ihr Roman »Gebrauchtes Glück« verkaufte sich allein in den USA über eine Dreiviertelmillion Mal. Gabrielle Roy starb mit 73 Jahren.

Quelle: Aufbau Verlag


Ein hochpolitischer Roman und von unerwarteter Wirkung: „Gebrauchtes Glück“, „Bonheur d’ Occasion“, trug wesentlich zur „Stillen Revolution“ der 60er Jahre in Québec bei, als die korrupte Politikerkaste entmachtet, der Einfluss der Kirche beschnitten und eine neue Sozialgesetzgebung auf den Weg gebracht wurde.
WDR 3, Jutta Duhm-Heitzmann

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