{Rezension} Mithu Sanyal über Emily Brontë

Wie ein Sturm ist das Werk Emily Brontës in das Leben von Mithu Sanyal hineingefegt. Die erste Lektüre des Romans »Sturmhöhe: Wuthering Heights« hatte für die Autorin von »Identitti« lebensprägende, lebensverändernde Kraft.

Mithu Sanyal hat ein mitreißendes Buch über das Leben und Schreiben der weltberühmten englischen Autorin geschrieben, der man zu Lebzeiten mangelnde Weiblichkeit vorwarf und deren Buch als gefährlich galt. Für Sanyal, Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters, war und ist »Sturmhöhe« ein Buch, in dem sie die eigene Fremdheitserfahrung wiederfand, ein Buch, das ihr in ungefähr allen wichtigen Lebensmomenten irgendwie weiterhalf und sie immer begleitet. Beim Sex, beim langweiligsten Urlaub der Welt, bei angeheirateten englischen Verwandten, die sich nach dem Empire zurücksehnen, und beim Planen der Revolution. Denn darum geht es vor allem in diesem Buch: um das Wunder, wie ein mehr als 170 Jahre alter Roman auf alle wesentlichen Fragen von heute zu Gender, Race, Class und Geistern klare, aktuelle, zukunftsweisende Antworten hat.

Quelle: Kiepenheuer & Witsch

Ein Gespräch zwischen der Autorin und dem Literaturkritiker und Fernsehmoderator Volker Weidermann, inspirierte ihn zu einer neuen Buchreihe unter der Überschrift ›Bücher meines Lebens‹ und so ist die Initialzünderin in »Mithu Sanyal über Emily Brontë« nach »Florian Illies über Gottfried Benn« gleich in der zweiten Ausgabe dieser Reihe zu finden. Einer Buchreihe, in der Persönlichkeiten der Literaturwelt über das Buch sprechen, das für sie lebensverändernd oder lebensprägend war.

Mein Herz brennt für Klassiker und als ich sah, dass die großartige Autorin von »Idenditti« etwas über Emily Brontë und deren einzigen veröffentlichen Roman ›Sturmhöhe‹ bzw. ›Wuthering Heights‹ verfasst hat, war meine Neugier sofort geweckt. Wie passt das Werk einer Schriftstellerin von vor über 170 Jahren mit der heutigen Welt zusammen?

Mithu Sanyal berichtet so persönlich und intim von ihrer Geschichte zu ›Wuthering Heights‹ und Emily Brontë, dass sich dieses feine Büchlein überhaupt nicht wie eine literaturwissenschaftliche Abhandlung liest, sondern eher wie eine intensive Liebeserklärung. Sie erzählt davon, wie Wuthering Heights, ihr erster ›echter‹ Roman, in ihr Leben kam „Und das war ein Glücksgefühl, ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis“ (Seite 14), was er mit ihrem Sexleben zu tun hat und wie sie sich in den Figuren der Geschichte wiederfindet. Eine große Rolle bei ihrer Entdeckung spielt die musikalische Interpretation des Romanstoffes von Kate Bush in ihrem gleichnamigen Song ›Wuthering Heights‹, dem es, so Sanyal „gelingt, die Atmosphäre des Romans heraufzubeschwören“ (Seite 20).

Aber auch Filmadaptionen und Einflüsse des Romans in unserer Popkultur, außerhalb der literarischen Welt, kommen zur Sprache und natürlich beschäftigt sich Mithu Sanyal auch mit der Autorin und ihrem Familienleben selbst, sodass man einen umfänglichen Gesamteindruck von Werk und Autorin erhält. Immer wieder bezieht sie dabei ihre starke persönliche Beziehung zu ›Wuthering Heights‹, und wie es sie geprägt hat, ein und deckt damit auch die darin, heute noch immer aktuellen, Themenbereiche auf.

Ich fand es unheimlich fesselnd, welch komplexe Themenbandbreite, von ›Sex‹ und ›Class‹ über ›Race‹ und ›Ghosts‹ Mithu Sanyal aus diesem Stück Weltliteratur herausgearbeitet hat und welch interessante Beobachtungen und Schlüsse sich daraus ziehen lassen. Ab sofort werde ich ›Wuterhing Heights‹ mit einem ganz neuen und weiten Blick betrachten und freue mich schon darauf, das Buch immer wieder neu zu entdecken, denn nach Lektüre dieses Büchleins hat man auf jeden Fall große Lust direkt zu Emily Brontës Werk zu greifen und in die Welt von Cathy und Heathcliff abzutauchen und den Geistern im Moor zu begegnen.

Noch ein kleiner Tipp am Rande: »Mithu Sanyal über Emily Brontë« gibt es auch als ungekürztes Hörbuch, welches direkt von der Autorin eingesprochen wurde und ist ebenso sehr empfehlenswert, da man hier die große Begeisterung und Leidenschaft von Sanyal auch auditiv richtig spüren kann!

Mithu Sanyal berichtet so intim und persönlich von ihrer prägendsten Lektüre, dass man Lust bekommt, »Sturmhöhe« von Emily Brontë (immer wieder und wieder) zu lesen und neu zu entdecken.

Dr. Mithu M. Sanyal, Schriftstellerin Kulturwissenschaftlerin und Journalistin, für WDR, DLF, SWR, Spiegel, Bundeszentrale für politische Bildung, The Guardian, Süddeutsche, Frankfurter Allgemeine, ZEIT, taz, Missy Magazine etc. Sachbücher u.a. »Vulva« (Wagenbach), »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« (Nautilus), das mit dem Preis »Geisteswissenschaften international« ausgezeichnet wurde. Ihr Debütroman »Identitti« (Hanser) wurde mit dem Ernst Bloch Preis und dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Quelle: Kiepenheuer & Witsch