{Rezension} Zeit der Wildschweine von Kai Wieland

Leon ist Reisejournalist und ergreift auf der Suche nach sich selbst, jede Möglichkeit der einengenden Beständigkeit seiner Familie zu entgehen. Die Gelegenheit dem dörflichen Leben seiner Heimat den Rücken zu kehren, bietet sich, als er den Auftrag erhält, über Lost Places zu schreiben. Zusammen mit dem interessanten Fotografen Janko, den er erst kürzlich beim Box-Training kennenlernte, reist er nach Frankreich, um dort der Faszination von Niemandsorten auf den Grund zu gehen.

Auf der Reise entwickelt sich ein Konkurrenzkampf und Janko begeht Verrat an dem gemeinsamen Projekt. Bleibt die Frage, welche Kunst das Rennen macht: Fotografie oder Journalismus? Oder liegt das Glück gar nicht im Bestreben nach Selbstverwirklichung, sondern im Zusammenhalt und der Liebe der Familie?

Mit »Zeit der Wildschweine« ist heute der zweite Roman aus der Schreibfeder von Kai Wieland im Klett-Cotta Verlag erschienen. In seiner Geschichte schreibt er über einen Millennial, der sich ganz und gar seine Generation, an vielen Orten und in vielen Rollen sieht, und dessen Selbstbild und Identität von popkulturellen Einflüssen aus Literatur und Film geprägt wird.

»Erzähle den Menschen Geschichten, die sie berühren, hatte Marc sinngemäß gesagt, und solche wollte ich schreiben, von Verlust und Verfall, vom Verlassen und Vergessen, den vier Vs des Berufsmelancholikers, und dazu noch ein gutes Hotel.«
Zeit der Wildschweine, Seite 24


»Ich trüge den Kopf in den Wolken, was ja an sich keine schlechte Sache und jedenfalls besser sei, als ihn in den Sand zu stecken.«
Seite 38

Verankert in dem ländlichen Idyll seiner schwäbischen Heimat, zieht es Wielands Protagonisten und Ich-Erzähler Leon immer wieder in die Welt hinaus. Als ihm sein Vater einen Wohnungstausch vorschlägt, wagt er dieses Experiment ebenso leichtfüßig und unüberlegt, wie er sich mit verschiedenen Rollen identifizieren kann und wenig später, mit dem ihm fast unbekannten Fotografen Janko, für ein neues Projekt über Lost Places nach Frankreich aufbricht.

»Saint-Rémy-sur-Mer war kein Lost Place im eigentlichen Sinne, sondern ein konventioneller Globalisierungsverlierer an der Küste des Ärmelkanals, angeschlagen, aber noch nicht zersetzt von Leerstand und Landflucht.«
Zeit der Wildschweine, Seite 102


Der Autor konfrontiert mit einer Geschichte, die durch poetische Sprache und den darin verschmolzenen Thematiken eine unglaubliche Sogwirkung auf mich ausübte. Die melancholische Grundstimmung im Einklang mit Wielands stimmungsvollem Erzählstil, machten es mir unmöglich, das Buch aus der Hand legen zu können. Die faszinierende Betrachtung von Urban Exploring und der Fokussierung auf einen Charakter, der sinnbildlich für eine ganze Generation aus Suchenden besteht, lässt die eigenen Gedanken ins kreiseln geraten und trägt zum hypnotischen Bannzauber der Geschichte bei.

»Wir sind nur Menschen, keine Galaxien.«

»Je mehr Zeit vergeht, je mehr sie sich spiegelt in meiner Schwester, in deren Welt ich einmal zu Hause war und deren Verödung mich heute betrübt wie einen Umweltschützer, desto sicherer bin ich mir, dass ich meine Mutter nie wirklich gekannt habe.«
Seite 135

In einer Zeit ohne Krieg und Entbehrungen herangewachsen, schickt sich diese Generation, zu der auch ich mich zähle, an, die »Leere« mit neuen Eindrücken aus Reisen, Geschichten, Film- und Literatur aufzufüllen und hat genügend Zeit die Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen und den Horizont zu erweitern. Leon gibt sich ganz der Findung seines Selbst hin und füllt dieses immer wieder mit Neuem, jedoch geraten dabei spürbar die Wurzeln zu den Menschen, die ihm nahe stehen, und die Bezugspunkte zu seiner Identität bilden, aus dem Blickfeld.

Sein Interesse für das Neue und Unbekannte ist größer, als sich auf das Althergebrachte zu berufen, und so entgleitet er in einen Kosmos aus Kunst und Geschichten über verlassene Orte, und verliert sich dabei in einem Paradoxon aus Wahrheit und Fiktion. Die Wildschweine in den nahen Maisfeldern seiner provinziellen Heimat können sicherlich als Metapher verstanden werden, sie bleiben genauso unsichtbar, wie das Ziel seiner Suche und die Maisfelder sind ein undurchdringliches Dickicht, dass die Sicht raubt.

Für mich bot »Zeit der Wildschweine« eine unglaublich interessante Leseerfahrung und ich habe es sehr genossen, mich zwischen den Zeilen treiben zu lassen. Die Geschichte hallt definitiv noch etwas länger in meinem Gedächtnis nach und bekommt nur einen kleinen Abzug, da ich mir hinsichtlich der Beziehung zwischen den Charakteren einen stärkeren Rahmen gewünscht hätte.


»Zeit der Wildschweine« ist eine besondere Art des Road-Trips, poetisch und melancholisch, in der Kunst genauso Thema ist, wie die Magie verlassener Orte und die Essenz von Identitätsprägung.

★★★★½

*WERBUNG*


Titel: Zeit der Wildschweine
Autor: Kai Wieland
Genre: Gegenwartsliteratur
Verlag: Klett-Cotta Verlag
ISBN-13: 978-3608982251
Format: Gebunden
Seitenanzahl: 271 Seiten
Preis: 20,00 €
Erschienen: 25. Juli 2020

bei amazon bestellen | Unterstütze den lokalen Buchhandel

Kai Wieland, geboren 1989 in Backnang. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Medienkaufmann, studierte anschließend Buchwissenschaft an der LMU in München und arbeitet seit 2016 für ein Verlagsbüro in Stuttgart. Mit seinem Debüt Amerika wurde er Finalist beim Blogbuster, dem Preis der Literaturblogger.

Quelle: Klett-Cotta Verlag


[…]ein Roman für uns 30somethings, die sich manchmal noch ein bisschen Lost im Leben fühlen.
The Read Pack

Du hast das Buch auch besprochen? Gib mir einfach über die Kommentarfunktion Bescheid. Ich verlinke Deine Rezension dann gerne hier.

Sag auch etwas dazu...

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.